Marburg-Biedenkopf – Schon die ersten Worte des Alt-Bundespräsidenten machten deutlich, dass er offenbar gute Laune hatte: „Das ist ja wie früher: Eine Kirche, die Orgel spielt und ich wurde vom Pfarrersehepaar herzlich aufgenommen“, sagte Joachim Gauck, der noch zu DDR-Zeiten Pastor in Rostock war.
Auf Einladung des Landkreises Marburg-Biedenkopf war Gauck im Rahmen der Veranstaltungen zum 50-jährigen Bestehens des Kreises nach Marburg gekommen. In der voll besetzten Lutherischen Pfarrkirche St. Marien las er aus seinem Buch „Erschütterungen – Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht“, das er gemeinsam mit der Journalistin Helga Hirsch geschrieben hat.
„Ich bin ja in Deutschland zuständig für die Zuversicht“, stellte er mit einem Augenzwinkern fest und betonte, dass das Leben auch Dinge habe, die unserer Seele guttun. „In ernsten Zeiten wollen wir uns die Freude nicht verbieten“, sagte der 84-Jährige mahnend und Mut machend, stand auf und fing an, den Zuhörerinnen und Zuhörern die Welt zu erklären. Ernsthaft, anschaulich, verständlich, kritisch, differenziert und durchaus aber auch humorvoll.
Er betonte die Bedeutung einer liberalen Demokratie und dass man sich vor Augen führen müsse, was wir verlieren könnten, wenn wir nicht wachsam sind und was wir bewahren können. „Wir sollten uns mit den eigenen Erfolgen der vergangenen Jahrzehnte konfrontieren und verteidigen, was wir geschaffen haben“, sagte Gauck. Das Leben in Freiheit und in einer Demokratie solle man nicht als selbstverständlich betrachten.
Er berichtete, dass er 1990 als 50-Jähriger nach dem Zusammenbruch des SED-Regimes in der DDR erstmals an freien, geheimen und demokratischen Wahlen teilnehmen durfte und dass er auf dem Weg aus dem Wahllokal Tränen der Freude in den Augen hatte. Damals habe er sich geschworen, keine Wahl mehr zu versäumen.
Er schlug den Bogen von der nationalen und internationalen Außen- und Sicherheitspolitik zur Politik Russlands und Wladimir Putins und analysierte dessen Machtstreben. „Putin ist keine Mischung aus Gorbatschow und Tolstoi“, warnte er. Dabei beleuchtete er auch durchaus kritisch die deutsche Außenpolitik und wies auf strategische Fehler hin, die im Umgang mit Russland in den vergangenen Jahren gemacht worden seien.
Auch das Thema Rechtspopulismus sprach Joachim Gauck an. „Wir dürfen den Rechtsradikalen nicht zu viele unserer Ängste schenken“, sagte Gauck mit Blick auf Deutschland. Er riet zu Entschlossenheit und Zivilcourage, „an der man nicht krepiere“, im Umgang mit Rechtspopulisten. „Ich mache mir keine Sorgen, dass in Deutschland in den nächsten 30 Jahren Menschen von rechts außen an die Macht kommen. Dafür haben wir eine starke Demokratie und vernünftige Demokraten“, sagte Gauck. Er sagte aber, dass man nicht abwarten dürfe, wohin rechte Parteien uns treiben. Vielmehr solle man sie nicht wählen und auch andere dazu bringen, sie nicht zu wählen. Man müsse auch unterscheiden zwischen den Menschen, die rechte, völkische Sprüche „raushauen“ und denen, die von der Moderne verunsichert seien.
Im Laufe das Abend tauschte sich Gauck dann noch mit Landrat Jens Womelsdorf und Ralf Laumer, der das Landratsbüro leitet, über das Buch und dessen Entstehen sowie über das Thema Demokratie aus. Gaucks Tipp an den Landrat: „Reden Sie mit den Menschen so, dass Sie verstanden werden.“
Joachim Gauck war von 2012 bis 2017 der elfte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. Zu DDR-Zeiten war Gauck Pastor und Kirchenfunktionär in Rostock. Im Zuge der friedlichen Revolution wurde er ein führendes Mitglied des Neuen Forums in Rostock. Er gehörte der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR an. Mit der Wiedervereinigung war Gauck 1990 auch kurzzeitig Mitglied des Deutschen Bundestages für das Bündnis 90. Von 1990 bis 2000 stand Gauck als erster Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen an der Spitze der oft nach ihm benannten „Gauck-Behörde“, die die schriftliche Hinterlassenschaft des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) verwaltet und zugänglich macht.