Marburg-Biedenkopf – Untersuchungen haben gezeigt, dass etwa ein Drittel der Menschen im Leistungsbezug der Jobcenter unter psychischen Erkrankungen leidet. Das KreisJobCenter des Landkreises Marburg-Biedenkopf (KJC) hat das früh erkannt und bietet zusammen mit dem Universitätsklinikum Gießen und Marburg (UKGM) insbesondere erkrankten Langzeitarbeitslosen eine zielgerichtete Unterstützung.
Die Hintergründe hat das KJC anlässlich der aktuellen Aktionswoche der kommunalen Jobcenter unter dem Motto „Stark. Sozial. Vor Ort.“ vorgestellt. „Nicht wenige Menschen erleben Arbeitslosigkeit und die damit einhergehende Abhängigkeit staatlicher Leistungen negativ, was sich zum Teil massiv auf die Gesundheit auswirkt“, sagt der Erste Kreisbeigeordnete Marian Zachow. Auf dem Weg aus der Langzeitarbeitslosigkeit könne eine psychische Erkrankung ein Hindernis sein, allerdings sei es häufiger der Fall, „dass eine solche Erkrankung erst ursächlich für den Verlust einer Arbeitsstelle ist“, ergänzt Professor Dr. Tilo Kircher von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Marburg.
Überhaupt seien solche Krankheitsbilder nicht selten. „Jeder dritte Mensch in der Bundesrepublik leidet mindestens einmal im Leben an einer psychischen Erkrankung“, sagt Kircher. Bei Langzeitarbeitslosen, also den Menschen, die Arbeitslosengeld II beziehen, läge der Anteil bei knapp 37 Prozent. Zu diesem Ergebnis käme eine Studie der Techniker Krankenkasse.
Es gibt also einen Zusammenhang von psychischen Erkundungen und Arbeitslosigkeit. „Allerdings gehört die Möglichkeit einer therapeutischen Intervention oder Hilfe in aller Regel nicht zur Unterstützung durch ein Kreis-Job-Center“, sagt Andrea Martin vom Fachbereich Integration und Arbeit der Kreisverwaltung. Auch eine systematische Kooperation zwischen Jobcentern und dem psychosozialen Einrichtungen fände laut Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarktforschung (IAB) kaum statt. Anders ist es im Landkreis Marburg-Biedenkopf.
Hier hat das KJC gemeinsam mit dem UKGM bereits vor vier Jahren mit dem Angebot eines „psychosozialen Coachings“ reagiert. „Eine Kooperation von Jobcentern und Kliniken ist aufgrund der Häufung psychischer Erkrankungen bei Langzeitarbeitslosigkeit sinnvoll, zumal psychische Erkrankungen einmal erkannt, oftmals auch gut behandelbar sind“, erläutert Professor Kircher. „Mit dem Angebot können wir psychisch erkrankten Menschen in Langzeitarbeitslosigkeit auf freiwilliger Basis unmittelbar vor Ort, im Jobcenter, zielgerichtete Hilfen und Unterstützung durch eine Psychologin zukommen lassen“, sagt Andrea Martin.
Die grundsätzliche Freiwilligkeit sei dabei ebenso wichtig, wie die Schweigepflicht der Psychologin gegenüber den Mitarbeitenden des Jobcenters. Es gibt keine Sanktionen, wenn das Angebot abgelehnt oder abgebrochen wird und auch die Schweigepflicht der Psychologin gilt gegenüber dem Jobcenter uneingeschränkt“, bekräftigt Andrea Martin.
Äußert ein Betroffener von sich auch psychische Probleme oder nimmt ein Fallmanager möglicherweise auffälliges Verhalten bei einem Kunden wahr, informiert der Fallmanager über das Coaching und lädt den Kunden nach Rücksprache mit der Psychologin ein. Der Ablauf kann individuell angepasst werden. „In aller Regel werden wir in einem ersten Gespräch über die Vorgeschichte sprechen und eine erste Verdachtsdiagnose treffen, die wir in weiteren Terminen ausführlicher abklären und den individuellen Bedarf feststellen“, sagt die Psychologin des Projekts, Lisa Rau. Hieran würden sich weitere Beratung und die Unterstützung bei einer möglicherweise notwendigen Suche nach einem Therapieplatz anschließen. In einem akuten Fall könne aber auch direkt geholfen werden.
„Die besondere Stärke des psychosozialen Coachings ist, dass ich die Menschen hier unmittelbar und in klarer Abgrenzung zu anderen Maßnahmen des Jobcenters erreichen kann“, schildert Rau. Angestellt bei der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie arbeitet sie auf Grundlage eines Kooperationsvertrages 20 Stunden in der Woche in den Räumen des KJC in Marburg. Durch die Präsenz vor Ort sei es auch möglich die Mitarbeitenden des KJC für das Thema zu sensibilisieren.
Seit Projektbeginn 2015 wurden bis heute 619 Menschen im Leistungsbezug des Jobcenters Marburg-Biedenkopf beraten und betreut. In vielen Fällen konnte durch das Coaching eine psychiatrische Versorgung überhaupt erst ermöglicht werden. „Weil wir erst im Rahmen dessen eine Erkrankung festgestellt haben“, stellt Rau fest. So seien beispielsweise im Jahr 2017 über 80 Prozent der am Coaching Teilnehmen, bei denen eine Diagnose gestellt wurde noch gar nicht in Behandlung gewesen.
Entstanden ist die Idee, über Kooperationen Psychologen in Jobcentern arbeiten zu lassen, vor einigen Jahren in München. Im Rahmen des Programmes „Perspektive 50plus“ wurde dann, ausgehend vom Jobcenter Leipzig, ein bundesweites Netzwerk in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Bündnis gegen Depression e.V. geschaffen. „Wir arbeiten in Marburg besonders eng und gut miteinander, weil wir schon in der Vergangenheit mit dem Projekt „Bürgerarbeit“ Kontakte zu dem Bündnis gegen Depression e.V. geschaffen hatten. Wir haben unsere kommunalen Spielräume zur Intensivierung der Arbeit für psychisch kranke Menschen immer genutzt“, sagt der Erste Kreisbeigeordnete Marian Zachow.
Alle Beteiligten stimmten darin überein, dass das „Psychosoziale Coaching mit Lotsenfunktion“ ein wichtiger Baustein in der Arbeit des Jobcenters und auch der psychiatrischen Versorgung der Menschen im Landkreis Marburg-Biedenkopf darstellt. Dass das Projekt im hiesigen Jobcenter besonders gut funktioniert und überregional Beachtung findet, wird auch dadurch deutlich, dass Lisa Rau im Mai 2019 im Rahmen einer Tagung „Psychische Gesundheit im SGB II“ in Frankfurt das Modell der Zusammenarbeit vorstellte und für eine Ausweitung empfahl.